Adam Soboczynski hielt auf Thea Dorn eine sehr persönliche Laudatio
Verehrte Damen und Herren, lieber Herr Dr. Blechschmidt, liebe
Thea Dorn,
Es gibt einen Witz im alten Doppelsinn. Einen Witz, der nur
deshalb zum Lachen reizt, weil ihm eine Erkenntnis beigemengt
ist, worauf in der deutschen Sprache das Wort Gewitztheit noch
verweist. Oder wenn man sagt: Das ist doch gerade der Witz an
in dieser oder jener Sache. Beim Witz in dieser Bedeutung geht
um Esprit und Gedankenschärfe, und nicht einfach um
Schenkelklopfer. Wenn ich an Thea Dorn denke, dann denke ich
fast immer an ihre fröhliche Pointen. Wenn Sie zum Beispiel als
Moderatorin des Literarischen Quartetts bei einem anruft, um
mitzuteilen, dass ein Gast in ihrer Sendung ausfallen wird und
man doch bitte einspringen soll – und wenn sie dann ganz
nebenbei, aber sehr heiter hinzufügt, die Sendung werde leider
schon in drei Tagen aufgezeichnet.
„Wer soll das schaffen? Es sind doch vier dicke Bücher, die man
lesen muss“, könnte man dann am Telefon zwar einwenden. Thea
Dorn aber würde sofort erwidern: Ach, für genau solche
Situationen ist man doch Profi, Herr Soboczynski. Da kann man
natürlich nur lachen und zusagen.
Es gehört zu einer der zahlreichen Begabungen Thea Dorns, eine
Stimmung zu erzeugen, die es einem unmöglich macht, ihr etwas
auszuschlagen. Nur in ganz seltenen Fällen gelingt es einem
doch, wenn an dem Tag der Aufzeichnung Ihrer Sendung eine
schwere Operation im Krankenhaus ansteht zum Beispiel und man
dann wirklich, wirklich nicht einspringen kann. Man muss
jedenfalls mit Blutrünstigem kommen, um ihrem Temperament,
ihrer Durchsetzungskraft, ihrer Leidenschaft für Literatur und
Kultur etwas entgegenzusetzen. Sie wissen gewiss, dass Thea
Dorn auch Kriminalromane, sehr erfolgreiche und sehr blutige
Kriminalromane geschrieben hat. Gleich ihr erstes Buch war ein
Krimi und erschien vor 30 Jahren, er hieß „Berliner
Aufklärung“.
Es ist also, glaube ich, kein Zufall, dass sie damals – ich
zitiere eine Zeitung – als „brutalste Autorin Deutschlands“
bezeichnet wurde. „Haben Sie Alpträume“, wurde Thea Dorn in
jener Zeit von einer Journalistin gefragt. Und Thea Dorn
antwortete: „Massenhaft. Ich bin eine Heldin des Albtraums,
aber das sind vermutlich alle Krimi-Autoren. Wenn man sich den
ganzen Tag damit beschäftigt, wie man jemandem am besten den
Kopf abhackt oder ihn zerlegt, das hinterlässt schon Spuren.“
Sie sehen, man darf sich vor Thea Dorn auch ein bisschen
fürchten. Aber in der Regel nicht, weil sie Mordphantasien
hegt. Viel häufiger, weil sie messerscharf argumentiert. Sie
werden beobachtet haben, dass Thea Dorn im Literarischen
Quartett sehr, sehr häufig recht hat, wenn sie ein Werk gut
oder schlecht findet. Nicht immer, aber fast immer recht. Und
Sie werden beobachtet haben, dass ihr das Rechthaben nicht mit
Rechthaberei gelingt, sondern weil sie genau erklären kann,
warum nicht jedes Werk von Haruki Murakami zur Weltliteratur
zählt, sondern nur etwa jedes zehnte. Rechthaben bedeutet auch
nicht, dass man andere Meinungen ignoriert. Das wäre Thea Dorn
völlig wesensfremd. Nichts scheint sie stärker abzulehnen, als
den Gleichklang von Meinungen. Sie weiß, dass erst im Austausch
unterschiedlicher Positionen Erkenntnisse reifen. Dass es einem
nur im Widerspruch gelingt, die eigenen Gedanken zu schärfen.
Aber eben auch, dass eine umfassende Bildung und das Wissen um
unser kulturgeschichtliches Herkommen nützlich sind, um sich
auf Augenhöhe streiten zu können und sich ein Bild über unsere
Gegenwart zu verschaffen.
Dass Bildung die Voraussetzung für unsere Debattenkultur ist,
zeigen Thea Dorns kritische Beschäftigung mit der Literatur wie
auch ihre manchmal provokanten, aber niemals langweiligen
Gegenwartsanalysen, Interviews und Essays, die regelmäßig in
der Wochenzeitung DIE ZEIT, aber auch in anderen Medien
erschienen sind – sie hat über die Haltung der Zuversicht
geschrieben, einen Muskel, den man beständig trainieren muss.
Über Vor- und Nachteile des politischen Engagements in der
Kunst. Über Frauen, die in den rechten Parteien Karriere
machen. Über den Überfall auf die Ukraine und unsere
Waffenlieferungen. Über Corona und die Freiheit, die bei der
Bekämpfung von Pandemien so schnell über Bord geworfen werden
kann. Wer ihre Meinungsbeiträge aufmerksam liest, der weiß,
dass Ihr Wirken im Dienst einer menschenfreundlichen, auch
humorvollen Aufklärung steht. Aber: Dass sie den Reiz
romantischer Schattenseiten niemals unterschlägt.
Ich glaube, die Wurzel von Thea Dorns Witz, ihrer Debatten- und
Moderationslust liegt im Theater. Sie hat als Theaterautorin
und als Dramaturgin gearbeitet. Und als Drehbuchautorin, etwa
für den Tatort. Sie weiß, dass Erkenntnisse nur dann
einsickern, wenn sie unterhaltsam und pointenreich dargeboten
werden. Ihr erstes Theaterstück „Marleni“ aus dem Jahr 2000
über eine Aufsehen erregende Begegnung zwischen der greisen
Marlene Dietrich und einer alten, aber erschreckend vitalen
Leni Riefenstahl, hatte weltweiten Erfolg. Und das kann kaum
ein Theaterautor deutscher Sprache von sich behaupten.
Es ist nicht einfach, Thea Dorns Werk zusammenzufassen, denn es
ist enorm vielschichtig. Sie erkundete in großen, weithin
beachteten Büchern die deutsche Kultur- und Nationalgeschichte,
und sie hatte dabei keine Scheu, für einen humanen, weltoffenen
Patriotismus einzutreten. Sie ist der Auffassung, dass „jemand,
der nicht weiß, wo er herkommt, auch nicht wissen kann, wo er
hin will.“ Ihr ist die deutsche Kulturnation der wertvollste
deutsche Mythos. Diese stand mit ihrer Offenheit über die engen
Landesgrenzen hinweg, mit ihrer Freiheit, Eindrücke von
überallher aufzunehmen, mit ihrer kosmopolitischen Neugierde im
schroffen Gegensatz zur nationalstaatlichen Enge und Dumpfheit,
von der die deutsche Geschichte leider auch reich gesegnet ist.
Und leider wieder auch die Gegenwart.
Thea Dorn verfasste Belletristisches, aber auch philosophische
Romane, etwa zur biomedizinischen Hybris oder über Trauer. Ich
möchte die Titel nennen „Trost. Briefe an Max“ und „Die
Unglückseligen.“ Sie sehen schon, die Bandbreite ist groß bei
dieser Autorin und einer der wichtigsten Intellektuellen des
Landes, aber niemals sind ihre Beiträge beliebig. Ob sie etwas
veröffentlicht oder in der Öffentlichkeit auftritt, sie stiftet
immer, manchmal auch nur subtil und indirekt zur Freiheit an.
Und Freiheit meint in diesem, in unserem Zusammenhang etwas
Simples und gleichzeitig unendlich Schwieriges:
Vorurteilsfreiheit, die Mündigkeit, lieber selbst zu denken,
statt schon Vorgekautes weiterzukauen.
„Das eigentliche Problem von Mündigkeit“, sagte einmal Theodor
W. Adorno, ist, „ob und wie man […] entgegen wirken kann“.
Mündigkeit impliziere, fuhr er fort, immer auch „eine Erziehung
zum Widerspruch“. Besser kann gar nicht zusammengefasst werden,
was Thea Dorns Arbeit auszeichnet, und wer ihr Werk und Wirken
kennt, weiß, dass zur Mündigkeit noch ein Aspekt gehört, und
das ist, wir hatten es schon erwähnt, der Witz als Grundlage
des Diskurses, dieser Schmierstoff der Unterhaltung, ohne den
es selten zu einer Verständigung kommt. Der Witz, der immer nur
dann gelingt, wenn man eine Grunddistanz zu sich selbst hat,
wenn man sich selbst einschließt. Das Gegenüber sieht, dass es
ausgelacht, dass es angegriffen wird. Aber es sieht auch, dass
der Angreifer sich damit selbst lädiert, dass er im Verlachen
eines Gegners, sich selbst verlacht.
Thea Dorn ist der lebende Beweis dafür, dass die deutsche
Tradition und Kultur nicht nur biederböse Ernsthaftigkeit und
Pathos kennt, sondern sich auch die heitere und helle „Berliner
Aufklärung“ mit Voltaire und Friedrich Nicolai und Moses
Mendelssohn umfasst. Thea Dorn hat immer wieder daran erinnert,
dass es einen Zusammenhang gibt zwischen geistiger Bildung,
humanistischem Engagement und politischer Mündigkeit. Und dass
es fatal wäre, diese aufklärerische und espritvolle
Traditionslinie, in der wir noch immer stehen, zu vergessen,
sie als veraltet oder als historisch abzutun, wie es in leeren
Coolnessgesten gar nicht so selten geschieht.
Thea Dorns Projekt und Werk sind nicht bescheiden, denn sie
zielt aufs Ganze. Sie möchte verteidigen, was in Europa in den
letzten zweieinhalbtausend Jahren entstanden ist: Die Idee
eines mündigen, gebildeten, emanzipierten und freien
Individuums. Denn sie weiß, dass diese großartige Idee weltweit
immer noch eine Minderheitenidee ist und dass wir selbst dabei
sind, sie zu verscherzen. Es ist eben kein Selbstweck, sich mit
der Odyssee und mit Schubert, mit Thomas Mann oder Hannah
Arendt zu beschäftigen, und zwar auch kritisch. Man lernt in
der Auseinandersetzung mit unseren humanistisch
Kulturbeständen, was beschützenswert ist, wofür es sich zu
leben lohnt. Man muss an dieser Stelle so pathetisch werden –
angesichts der Kriege, die von Russland ausgehen und
extremistischen Kräften, religiösen wie politischen, die Europa
enorm herausfordern und vor denen Thea Dorn zurecht beharrlich
warnt.
Meine Damen und Herren, Thea Dorn hat in einem Gespräch einmal
ihren Lieblingswitz verraten. Er ist ein klein wenig biblisch,
fast schon religiös. Witze sind ja zum Weitererzählen da,
deshalb verrate ich ihn Ihnen hier zum Abschluss.
Also, er geht so: Hängen zwei Schächer am Kreuz. Fragt der eine
den anderen: „Tut’s bei dir auch so weh?“ Sagt der andere:
„Nur, wenn ich lache.“
Ich gratuliere Thea Dorn zum Karl-Hermann-Flach-Preis.