Im Anderen den Nächsten sehen

Ignatz Bubis

Erinnerungen an Ignatz Bubis - von Salomon Korn

Erinnerungen an Ignatz Bubis - von Salomon Korn

Samstag, 14. August 1999: „Wohin geht die Leiche?“ „Von Frankfurt nach Tel-Aviv“. Die Frage des Beamten auf dem Ordnungsamt ist trotz ihrer unfreiwilligen Mehrdeutigkeit korrekt. Meine Antwort ist es keineswegs, hat er doch nur nach dem Zielflughafen und nicht nach dem Abflugs-ort gefragt. Warum also mein überflüssiger Zusatz? Vor dem endgültigen Abschied von Ignatz Bubis will ich die Verbindung zwischen ihm und uns, zwischen ihm und mir nicht – noch nicht – abreißen lassen. Doch das kurze Hinauszögern des amtlichen Stempels auf den Frachtpapieren besitzt die Kraft jenes dünnen Speichelfadens, der sich gelegentlich zwischen Unter- und Oberlippe dehnt – bis er reißt! 

Es war im Sommer 1967, als ich Ignatz Bubis zum ersten Mal in offizieller Funktion begegnete. Er, der damals 40-Jährige, leitete die Baukommission der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. In dieses Gremium berief er mich, den 24-jährigen Architekturstudenten, wohl in der Hoffnung, daß durch meine Anwesenheit ein frischer Wind in die Runde vorwiegend älterer Herren und erfahrener Immobilienkaufleute wehen würde. Das war in der Tat der Fall. Vom Schwung der aufkommenden achtundsechziger Bewegung getragen, platzte ich in die erste Sitzung mit einem Vorschlag, dem es nicht an Sprengkraft mangelte: die monumentale Westend-Synagoge, jenes unansehnliche Überbleibsel aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, so meine damalige Begründung, sei abzureißen und an ihrer Stelle ein modernes Gemeindezentrum mit Synagoge zu errichten. Das brachte ein honoriges Mitglied der Baukommission so in Rage, daß er meinen unverzüglichen Ausschluß aus diesem Gremium forderte. Ignatz Bubis lächelte nachsichtig und bat die Anwesenden, mich aussprechen zu lassen. Rückblickend betrachtet war mein Vorschlag schlicht schwachsinnig, und auch Bubis mußte ihn wohl so empfunden haben. Dennoch forderte er, eine abweichende, ja, abwegige Meinung anzuhören - eine Tugend, deren Ursprung ich erst viel später, in seiner 1996 veröffentlichten Biografie, entdeckt habe. Dort spricht er von seiner Erziehung, „die ohne Drohungen und Strafen auskam und dennoch sehr effektvoll war (…) Vater und Mutter waren unantastbare Autoritätspersonen, und ich sprach sie beide nur in der dritten Person an. Man hörte mir zu, ließ mich aussprechen, respektierte meine Meinung, aber machte sie sich kaum je zu eigen.“ 

Seit Ignatz Bubis 1978 Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt geworden war, zählte die Errichtung eines Gemeindezentrums zu seinen wichtigsten Aufgaben - ein zu jener Zeit umstrittenes Projekt, da vor allem Mitglieder der älteren Generation von einer Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland keineswegs überzeugt waren. Doch Bubis schaffte schließlich, gegen Widerstand aus der eigenen Mitgliederschaft, die Voraussetzungen zur Verwirklichung des ehrgeizigen Vorhabens. Im September 1979 schrieb die Jüdische Gemeinde Frankfurt einen Architektenwettbewerb um den Neubau eines Gemeindezentrums aus. Preisgekrönt wurde mein Entwurf, den ich mit der Architektengemeinschaft Gerhard Balser eingereicht hatte. 

Im Frühjahr 1980 begann meine 19 Jahre währende Zusammenarbeit mit Ignatz Bubis. Sie war zunächst alles andere als harmonisch. Um den Bau des Gemeindezentrums finanzieren zu können, verlangte er allerlei Kompromisse von mir, auf die ich wegen weitreichender Konsequenzen nicht eingehen wollte. Es kam zum Zerwürfnis, bei dem ich ihm, unter Berufung auf den Ausschreibungstext des Wettbewerbes, mit einem Prozeß drohte, während er mir ausrichten ließ, daß er sich nicht unter Druck setzen lasse und das Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung auf sich nehmen würde. Käme es aber so weit, dann werde nicht mein Entwurf, sondern ein anderer verwirklicht werden – auch wenn die Jüdische Gemeinde diesen Rechtsstreit verlieren sollte. 

Damals kannte ich Bubis kaum. Woher sollte ich wissen, daß er, bei Kriegsende gerade 18 Jahre alt, von den Härten nationalsozialistischer Arbeitslager geprägt, beizeiten gelernt hatte, sich gegen Widerstände durchzusetzen? Dort war es auch, wo eine seiner herausragenden Fähigkeiten, sein enormes Gedächtnis, sich frühzeitig bewährt hatte. Als eben 14-Jährigen ernannten ihn die deutschen Besatzer 1941 zum Postboten, der vom außerhalb des Debliner Ghettos gelegenen Postamt die Post abholen mußte. Bevor ein Teil davon zur Zensur geschickt wurde, merkte Bubis sich vor allem die Empfänger und den Inhalt von Postkarten, um später den Adressaten zu erzählen, wer ihnen was geschrieben hatte. Vermutlich stammt auch seine Detailbesessenheit aus dieser Zeit, in der jede Kleinigkeit über Leben und Tod entscheiden konnte. 

Nachdem zwischen uns schließlich doch noch ein Kompromiss in Sachen Gemeindezentrum erzielt worden war, begann eine für mich lehrreiche Zusammenarbeit mit Ignatz Bubis. Dabei lernte ich schnell seinen in der Nachkriegszeit perfektionierten Umgang mit der Ökonomie der Mittel kennen: materiell und zeitlich. Es gab während der Planungs- und Bauphase des Gemeindezentrums keine Verhandlungen mit Bauingenieuren, Fachleuten oder Firmen, die Ignatz Bubis nicht selbst geleitet und abgeschlossen hätte. Die dabei erzielten Nachlässe lagen weit über dem Durchschnitt und haben sich nachhaltig auf die Baukosten des Gemeindezentrums ausgewirkt. Bis hin zu Materialien, Mobiliar und Einrichtungsgegenständen kontrollierte er den Ausbau, und selbst den Einkauf von Geschirr und Besteck für das koschere Gemeinderestaurant machte er zur Chefsache. 

Das alles erledigte Ignatz Bubis nicht vom grünen Tisch aus. Wo immer es nur möglich war, suchte er die Hersteller und Direktimporteure auf, um der Jüdischen Gemeinde die besten Bedingungen zu sichern. Ich begleitete ihn zu all diesen Terminen, was nicht ganz ungefährlich war, denn Ignatz Bubis steuerte damals sein schnelles Auto noch selbst. Unter 200 km/h fuhr er nur, wenn die Umstände es nicht anders zuließen - doch als ob dies nicht schon Risiko genug gewesen wäre, telefonierte er dabei fast ununterbrochen und vollends halsbrecherisch wurde es, wenn er - den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt - sich dabei noch schriftliche Notizen machte. 

Auf unseren gemeinsamen Reisen hat er das Steuer nie aus der Hand gegeben, auch nicht als wir Anfang 1986 mehrere Male mit dem Wagen in Norditalien unterwegs waren, um preiswerte Stühle für das Gemeindezentrum einzukaufen. Eine unserer mehrtägigen Fahrten führte uns  nach Poggibonsi in die Nähe von Siena. Ich schlug ihm vor, die Gelegenheit zu nutzen und die Altstadt von Siena zu besichtigen. Zu meiner Überraschung ging er darauf ein und zeigte großes Interesse an den Kunstschätzen des Doms, vor allem aber an den mit Intarsien reich geschmückten Fußböden. Zum ersten Mal spürte ich etwas von seiner Geschmacksicherheit in künstlerischen Dingen und sie beeindruckte mich auch in späteren Jahren immer wieder. Auf der Rückfahrt von Siena nach Mailand war genügend Zeit, um Ignatz Bubis nach seinem Leben zu befragen. So erfuhr ich wichtige Bruchstücke aus seiner Biografie, die sich allerdings erst viel später zu einem übersichtlichen Bild fügen sollten: 1927 wird er im damals noch deutschen Breslau geboren; 1935 zieht seine Familie mit ihm aus Nazi-Deutschland nach Deblin; der 1. September 1939, der Tag des deutschen Überfalls auf Polen, ist gleichzeitig erster und letzter Schultag von Ignatz Bubis im Gymnasium und sein letzter Schultag überhaupt; als 15-Jähriger muß er im Arbeitslager mit ansehen, wie sein Vater ins Vernichtungslager Treblinka deportiert wird; bei Kriegsende ist der 18-Jährige das einzige überlebende Mitglied seiner Familie; er beginnt zunächst in Lodz mit Pferden zu handeln; über Breslau und Dresden zieht er nach Berlin; sein erstes Geld verdient er im Schmuckhandel; erste finanzielle Erfolge stellen sich bald ein; eine zeitlang fährt er den Wagen des früheren Nazi-Außenministers Joachim von Ribbentrop; Anfang  der fünfziger Jahre betätigt er sich in Pforzheim im Edelmetallhandel; 1953 heiratet er seine Frau Ida,. mit der er weitläufig verwandt ist und die, wie er, mehrere Lager überlebt hat - über ihre jeweilige Lagerzeit haben sie nie miteinander gesprochen; 1956 ziehen sie von Pforzheim nach Frankfurt; Bubis baut zunächst einen erfolgreichen Schmuckhandel auf, dann wechselt er ins Immobiliengeschäft; 1965 kandidiert er erstmals für den Gemeinderat der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und wird auf Anhieb gewählt; während der Häuserkämpfe im Frankfurter Westend steigt er 1968 zum Buhmann der Linken auf; ihn stört es nicht, als Spekulant zu gelten, wohl aber als „jüdischer Spekulant“ diffamiert zu werden - die latenten antijüdischen Vorurteile waren für ihn unübersehbar: die „kritischen“ Studenten hatten unbewußt das Feindbild ihrer Eltern und Großeltern übernommen. 

Während wir dahinfuhren, erzählte er mir von seinen Immobilien-Geschäften im Persien vor der Revolution. Es klang wie Geschichten aus 1001 Nacht. Hin und wieder stellte ich Fragen, er antwortete, das Gespräch vertiefte sich: wir kamen auf die Situation der Juden in Deutschland zu sprechen. Nur einmal, so Bubis, habe er mit dem Gedanken gespielt, Deutschland zu verlassen: das sei 1985 während des Faßbinder-Konfliktes gewesen. - Und plötzlich ein Fluch aus seinem Munde: er hatte die richtige Abfahrt nach Mailand verpaßt und jetzt mußten wir die nächste, nördlich gelegene nehmen. Für ihn, den Meister der Ökonomie der Mittel, kam das einer Niederlage gleich: den Umweg konnte er sich nicht verzeihen. Bis wir im Stadtzentrum anlangten, hörte er nicht auf, über seinen „Fehler“ zu sprechen und noch Wochen später kam er in meiner Gegenwart wiederholt darauf zurück. 

Ignatz Bubis hatte sich vor unserer Rundfahrt mit seiner Frau Ida in Mailand verabredet, um am folgenden Tag Polstermöbel für ihre neue Frankfurter Wohnung einzukaufen. Glücklicherweise hatte Ida rechtzeitig ein Hotelzimmer gebucht, denn als wir sie am verabredeten Ort trafen, stellte sich heraus, daß es kein freies Hotelzimmer mehr im Mailänder Stadtzentrum gab. Ida und Ignatz Bubis zögerten nicht: sie boten mir an, in ihrem Doppelzimmer auf der Couch zu schlafen und so verbrachte ich diese Nacht in ihrem Zimmer. Menschen, die jahrelang gezwungen waren, auf engen, harten Holzpritschen in überfüllten Lagerbaracken zu vegetieren, haben eigene Maßstäbe von Privatheit und Solidarität entwickelt. So ging es mir durch den Kopf, als ich im Dunkeln die beiden atmen hörte; und in jener Nacht habe ich mich ihnen auf besondere Weise nahe gefühlt. 

Am 14. September 1986 wurde das Jüdische Gemeindezentrum Frankfurt eröffnet. In seiner Ansprache sagte Ignatz Bubis, daß die Jüdische Gemeinde mit diesem Haus eine alte jüdische Tradition fortsetze: immer wieder aufbauen! Nach dem Holocaust habe sich jedoch die Frage gestellt, ob dies auch in Deutschland richtig gewesen sei. Da die Bundesrepublik der freiheitlichste Staat ist, den es je auf deutschem Boden gegeben habe, so Bubis, dürfe man diese Frage bejahen. 

Nach Abschluß der Eröffnungsfeierlichkeiten traf ich Ida Bubis im Foyer des Gemeindezentrums. Wir kamen ins Gespräch und während unserer Unterhaltung stellte sie fest: „Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, in Frankfurt zuhause zu sein.“ Sie, die sich in Tel Aviv und Paris beheimatet fühlt, traf damit auch meine Empfindungen an diesem Abend: nach 40 Jahren Wüstenwanderung hatten die Kinder Israel ihre provisorischen Zelte mit einem festen, dauerhaften Haus getauscht – ein Haus, für das Ignatz Bubis 20 Jahre lang gekämpft hatte. Nur wenige Monate später, am 12. Januar 1987, feierte er im Jüdischen Gemeindezentrum mit 700 geladenen Gästen seinen 60. Geburtstag. An diesem Tag schrieb ich ihm einen Brief, in dem es unter anderem heißt: „Ich habe mich manchmal gefragt, ob in der Öffentlichkeit stehende Menschen sich aus privaten und öffentlichen „Personenanteilen“ zusammensetzen oder ob sie integrale Persönlichkeiten ohne größere Rollenbrüche sind. Schützen sich vielleicht in der Öffentlichkeit stehende Menschen durch Zurücknahme von Gefühlsnähe? Ich weiß es nicht! Was ich jedoch weiß, ist, daß Du bei so manchem Anlaß, am 9. November, beim Tod eines Weggefährten, bei der Einweihung des Gemeindezentrums, tiefe, aufrichtige Bewegtheit öffentlich gezeigt hast. Das hat mich jedesmal berührt, denn es ist nicht selbstverständlich bei politisch denkenden und handelnden Menschen. Was über Deine Verdienste zum Gemeindezentrum zu sagen ist, habe ich an anderer Stelle gesagt und geschrieben. Nur soviel hier: ich betrachte es als unser gemeinsames Werk, als Ergebnis einer fruchtbaren und glücklichen Zusammenarbeit (…)“ 

Über viele Umwege und Widerstände war eine Freundschaft entstanden, die mich bestärkte, im September 1986 mit Ignatz Bubis und seiner Fraktion für den Gemeinderat der Jüdischen Gemeinde Frankfurt zu kandidieren. Von der Popularität des „Gemeindezentrums-Architekten“ getragen, wurde ich zunächst in den Gemeinderat und anschließend in den Vorstand gewählt. Ignatz Bubis blieb unangefochten Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt. Unter seiner Leitung waren die Vorstandssitzungen arbeitsreich und lang. Die längste, an die ich mich erinnere, begann um 15.00 Uhr und endete um 2.00 Uhr morgens. Erstaunlich war immer wieder, mit welcher Konzentration, Ausdauer und Detailgenauigkeit er diese oft anstrengenden Sitzungen leitete. Was sie aber auszeichnete und oft zum Erlebnis werden ließ, waren Bubis‘ eingestreute Geschichten, humorvolle Anmerkungen und zum jeweiligen Thema passende Anekdoten. Jahresberichte und Bilanzen las er wie andere Menschen Zeitung und stets erfaßte er darin auf Anhieb fragwürdige Punkte und falsche Zahlen. Tageszinssätze unter Banken hatte er ebenso im Gedächtnis wie die Telefonnummern seiner Geschäftspartner, Kollegen und Freunde. Bei aller Detailkenntnis wahrte er immer den großen Überblick. Im Umgang mit Politikern zeigte er bemerkenswertes diplomatisches Geschick und konnte sich mit ausländischen Gästen in sieben Sprachen unterhalten. Wenn wir Jüngeren während langer Sitzungen gelegentlich schlapp machten, zeigte er nur selten Ermüdungserscheinungen. Endeten Sitzungen vor Mitternacht, dann fragte er scherzhaft, was er bloß mit dem Rest des Abends anfangen solle. Woher kam dieser Antrieb, woher seine erstaunliche Auffassungsgabe? Auch wenn sein Tonfall beim Sprechen sofort erkennen ließ, daß Deutsch nicht seine Muttersprache war, so hatte er doch einen erstaunlich reichen und differenzierten Wortschatz. Sein Gedächtnis, seine Sprachbegabung und sein Humor, so scheint es mir, befähigten ihn dazu, jederzeit spontan und frei zu sprechen. Und weil er dies verständlich, geradlinig und charmant tat, faszinierte und überzeugte er seine Zuhörer auf so menschliche Weise. 

Doch Ignatz Bubis konnte genausogut Härte zeigen, wenn es darauf ankam, einen einmal eingeschlagenen Weg konsequent zuende zu gehen. Das brachte ihn während des Börneplatz-Konfliktes in Frankfurt am Main am Ende in unvorhersehbare Gewissensnot. Was war geschehen? 1984 hatte die Stadt Frankfurt einen Architektenwettbewerb zur Errichtung eines Kundenzentrums der Stadtwerke auf dem Börneplatz, dem früheren Judenmarkt und Standort der im November 1938 zerstörten Börneplatz-Synagoge im Zentrum Frankfurts ausgeschrieben. Eine vorhergehende Abstimmung mit der Jüdischen Gemeinde fand nicht statt. Nach Abschluß des Wettbewerbes gelang es der Jüdischen Gemeinde und der Kirchheim’schen Stiftung, den damaligen Oberbürgermeister Walter Wallmann davon zu überzeugen, die vorgesehene Bebauung auf diesem historischen Platz zu reduzieren und auf dem verbleibenden Areal eine Gedenkstätte für die ermordeten Frankfurter Juden und die zerstörte Synagoge zu errichten. Bei Ausschachtungsarbeiten für das geplante Kundenzentrum der Stadtwerke im Frühjahr 1987 wurden Fundamente und Kellerreste von 19 Häusern, darunter zwei jüdische Ritualbäder des spätmittelalterlichen Ghettos freigelegt. Der anschließende Streit, ob und in welchem Umfang die Funde erhalten bleiben oder dem geplanten Verwaltungsbau zum Opfer fallen sollten, spaltete die Mitgliederschaft und den Vorstand der Jüdischen Gemeinde. 

Während Ignatz Bubis den Standpunkt vertrat, man habe 1984 mit der Stadt Frankfurt einen Kompromiss erzielt, von dem man jetzt nicht mehr abrücken könne, vertrat ich die Auffassung, es sei jetzt eine Situation eingetreten, die damals nicht absehbar gewesen war. Mit meinen öffentlichen Appellen und Zeitungsartikeln für einen Baustopp und eine Neuplanung stand ich gegen die Mehrheit des Gemeindevorstandes, der die einmal beschlossene Kompromisslösung weiterhin befürwortete. Weder Ignatz Bubis noch ich fühlten uns wohl auf unseren jeweiligen Positionen. Und doch respektierte er meine Meinung und hat nie versucht, mein öffentliches Eintreten gegen eine Bebauung des Börneplatzes durch Vorstandsbeschlüsse zu verhindern. Ich wußte natürlich, daß mein Verhalten jene Disziplin vermissen ließ, die man als Mitglied eines solchen Gremiums zumindest nach außen hin wahren sollte. Und obwohl auch ich Verständnis für seine Haltung hatte, bedeutete für mich die jetzt zu treffende Entscheidung eine historische Weichenstellung , die keine Kompromisse duldete. War jüdische Geschichte im Bewußtsein der nichtjüdischen Frankfurter auch Frankfurter Geschichte oder doch nur eine von der Stadtgeschichte abgespaltene Sondergeschichte einer gesellschaftlich ausgegrenzten Minderheit? Die Reste einer Kaiserpfalz am Börneplatz, so meine öffentlich geäußerte Überzeugung, wären unter keinen Umständen beseitigt worden. 

Was dann folgte, ist Geschichte: weder die Appelle von Kirchen, Gewerkschaften, namhaften Frankfurter Bürgern und 130 Professoren der Frankfurter Johann Wolfgang Goethe-Universität noch die vorübergehende Besetzung des Börneplatzes durch jüdische und nichtjüdische Frankfurter Bürger halfen. Sie konnten den Abriß der Reste des einstmals größten Ghettos Europas nur hinauszögern. Geblieben ist lediglich eine Dependance des Jüdischen Museums Frankfurt im Erd- und Untergeschoß des Stadtwerke-Kundenzentrums, in der aufbereitete Kellerreste von fünf Häusern der früheren Judengasse, etwa zwei Meter von ihrem Ursprungsort versetzt, gezeigt werden. Bei deren Eröffnung am 29. November 1992 gestand Ignatz Bubis ein, der Abbruch der Ghettoreste sei ein Fehler gewesen: er hätte doch auf mich hören sollen. Und daß er und nicht ich jetzt spreche, sei ein weiterer Fehler. Ich habe dies nicht aus Rechthaberei festgehalten, sondern weil diese Äußerungen zeigen: Ignatz Bubis war fähig, Fehlentscheidungen öffentlich einzugestehen. Auch wenn dies nichts mehr an den Tatsachen geändert hat, habe ich seine Worte als nobel und Zeichen von Größe in Erinnerung behalten. 

Am selben Tag flog ich nach Berlin zu den Trauerfeierlichkeiten für den am 27. Juli 1992 verstorbenen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Heinz Galinski. Ignatz Bubis war seit dem 20. September neuer Zentralratsvorsitzender. Aus diesem Anlaß hatte ich ihm einen Brief geschrieben: „(…) Mein erster Gedanke: Von Deiner vom nationalsozialistischen Vernichtungskrieg überschatteten Kindheit bis zur höchsten Position, die ein Jude im Nachkriegsdeutschland erreichen kann – eine besondere Fügung, verursacht durch die Wirren und Zufälle unseres an Leid so reichen Jahrhunderts und ein besonderer Anlaß, stolz auf das von Dir Erreichte sein zu dürfen. Nach meinem Verständnis der jüdischen Geschichte im Nachkriegsdeutschland hättest Du diese Position schon früher einnehmen sollen - eben, weil Du weit eher ein Repräsentant der Nachkriegszeit der Juden in Deutschland bist, als Deine Vorgänger im Amt es waren. Doch noch bleibt genügend Zeit für Dich, jüdisches Geschick in Deutschland zum Wohle unserer Gemeinschaft maßgeblich zu gestalten . (…) Bewahre bei allem, was kommen mag, eine Deiner vielleicht weniger bekannten, dafür umso herausragenderen Tugenden: die Nähe zu den Menschen Deiner Gemeinde, Deiner Herkunft, eben immer einer von ihnen – eben immer einer von uns.“ 

Die von mir erwähnte „besondere Fügung“ sowie die „Wirren und Zufälle“ bezogen sich auf Ignatz Bubis‘ Pläne aus den vierziger und fünfziger Jahren, nach Israel oder Kanada auszuwandern. Sein Entschluß, in Deutschland zu bleiben, war eher Zufall als das Ergebnis langfristiger Lebensplanung. Über die Unterschiede zwischen ihm und seinen Amtsvorgängern, dem „Leisetreter“ Werner Nachmann und dem „Mahner“ Heinz Galinski, ist viel geschrieben worden. Nachmann und Galinski waren Vertreter eines deutschen Judentums, das es nach 1945 nicht mehr gab. Ignatz Bubis dagegen repräsentierte in jeder Hinsicht jene Gemeinschaft jüdisch-osteuropäischer Flüchtlinge, die nach dem Krieg ihren (zunächst) provisorischen Wohnsitz in Deutschland genommen hatten. Ein „Ostjude“ und früherer „Immobilien-Spekulant“ als Zentralratsvorsitzender hat denjenigen Juden nicht gepaßt, die in vorauseilendem Gehorsam stets deutscher sein wollten als die Deutschen und meinten sich besonders „deutsch“ zu verhalten, wenn sie auf die „Ostjuden“ mindestens ebenso verächtlich herabblickten, wie viele Deutsche es jahrzehntelang getan hatten. Es ist erstaunlich: diese „Kritiker“ haben nicht erkannt und erkennen zuweilen auch heute noch nicht, welchen an Selbsthaß grenzenden Vorurteilen sie da aufsitzen. Das Verdienst von Ignatz Bubis bleibt es, daß er das „Bild vom Juden“, wenn nicht gar das „Bild vom Ostjuden“ in den deutschen Alltag hineingetragen und es durch sein persönliches Auftreten von Vorurteilen befreit hat. Nicht der „jüdische Beitrag“ zur deutschen Kultur steht dabei als meßbarer gesellschaftlicher Nützlichkeitsnachweis im Vordergrund, sondern ein viel höheres Gut: im Anderen den Nächsten und nicht den Fremden zu sehen. 

Der Börneplatz-Konflikt blieb nicht der einzige Anlaß, bei dem Ignatz Bubis und ich abweichender Meinung waren. Noch einmal, bei der Debatte um das Berliner „Holocaust-Mahnmal“, vertraten wir in der Öffentlichkeit unterschiedliche Standpunkte. Sie betrafen vor allem den vorgesehenen Standort für ein solches Monument in den „Ministergärten“, südlich des Brandenburger Tors. Ich lehnte ihn ab, weil an dieser Stelle, wo einst Hitlers Reichskanzlei gestanden hatte, das „Holocaust-Mahnmal“ an die deutsche Vergangenheit statt, wie etwa bei einem Standort am Reichstag, an der Neuen Wache oder am Brandenburger Tor, an die bundesrepublikanische Gegenwart gebunden worden wäre. Dem wollte Bubis weniger aufgrund inhaltlicher Bedenken als vielmehr aus politischem Kalkül nicht folgen. Er befürchtete, solche Forderungen könnten das gesamte Projekt gefährden. Doch in einem Punkt gab es unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten zwischen uns. Ohne den übrigen Opfergruppen eigene Mahnmale abzusprechen, befürwortete Ignatz Bubis ein besonderes nationales Holocaust-Mahnmal ausschließlich für die jüdischen Opfer, während ich ein zentrales Monument vor allem gegen Tat und Täter forderte, zumindest aber die gleichzeitige Errichtung von jeweils eigenen Mahnmalen für alle Opfergruppen des nationalsozialistischen Völkermordes. 

Vermutlich konnte Bubis als unmittelbar Betroffener nicht dieselbe Distanz zu diesem Thema wahren wie ich als Nachgeborener. Aber darauf kommt es mir hier nicht an. Wohl aber darauf, wie Ignatz Bubis dem begegnete. Nachdem ich 1996 in das Präsidium des Zentralrates der Juden in Deutschland gewählt worden war, wäre es für ihn, der diesem Gremium vorsaß, ein leichtes gewesen, per Mehrheitsbeschluß öffentlich klarzustellen, mein Standpunkt werde vom Präsidium des Zentralrates mißbilligt. Er hat es nicht getan und mir gegenüber nie einen Zweifel daran gelassen, daß unsere abweichenden Meinungen in der Sache nichts mit der gegenseitigen persönlichen Wertschätzung zu tun haben. Eine zeitlang dachte ich - oder wollte ich vielleicht so denken? - der Ausgang des Börneplatzkonfliktes habe diese Einstellung begünstigt. Heute weiß ich: das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Es war schon immer die große Stärke von Ignatz Bubis gewesen, unterschiedliche Meinungen zu akzeptieren, ja, ihnen bewußt Raum zu geben und dabei Person und Sache auseinanderzuhalten. Das machte es leicht, mit ihm zu streiten und die Gewißheit zu haben: es gibt immer einen Weg zurück zu ihm. 

Nie werde ich diesen Anblick vergessen: Ignatz und Ida Bubis sind als einzige auf ihren Plätzen in der Paulskirche sitzengeblieben, während um sie herum Repräsentanten der deutschen Politik und des deutschen Geisteslebens dem soeben mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichneten Schriftsteller Martin Walser stehend Ovationen darbringen. In diesem Augenblick sind Ida und Ignatz Bubis nicht nur allein - sie sind einsam. Dieses Bild hat sich mir eingebrannt wie der 1970 erfolgte Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal im Warschauer Ghetto. Brandts Kniefall schien eine Zeitenwende einzuläuten - ob es tatsächlich eine war, muß späteren Betrachtungen vorbehalten bleiben. Hat Walsers „Sonntagsrede“ vom Oktober 1998 vielleicht auch eine Zeitenwende eingeläutet, eine des gewandelten Umgangs mit der jüngsten deutschen Vergangenheit - mit Auschwitz und seinen Folgen? 

Als Ignatz Bubis in der Paulskirche sitzenblieb und Walsers Worten den Beifall verweigerte, hatte er vielleicht als einziger sofort die Brisanz der Walserschen Rede begriffen, ja, vermutlich deren Inhalt instinktiv richtig erfaßt. Während andere erst nachlesen und analysieren mußten - und da beziehe ich mich selbst auch mit ein - war ihm längst klar, welche Gefahr von dieser „Friedenspreis-Rede“ ausging. Aus dem zeitlichen Abstand betrachtet, wird deutlich, was Walser getan und was er unterlassen hatte: die notwendige Distanz des Intellektuellen zu sich selbst war von ihm ausgeblendet worden. Statt den unbestechlichen Blick des kritischen Schriftstellers ins eigene Innere, ins eigene Unbewußte und Verborgene zu lenken, ließ er ihn an der Oberfläche seiner Gefühlsschwankungen streifen. Nicht die bloße Feststellung, er schaue oft weg, wenn die grausamen Bilder der Judenvernichtung im Fernsehen gezeigt werden, war von Interesse oder gar skandalös - auch ich schaue sie mir nicht immer und bei jeder Gelegenheit an. Die Frage hätte, wenn Walser redlich gewesen wäre, lauten müssen: Warum schaue ich dabei weg? Was treibt mich wirklich dazu, wegzuschauen? Wo liegen in mir, in meiner Lebensgeschichte die verborgenen Gründe meines Bedürfnisses, wegzusehen? Nichts davon. Dafür eine nie formulierte, aber dennoch durchsichtige Absicht: die Legitimation der eigenen Biografie im langen Schatten von Auschwitz und der wortreich gewundene Versuch, endlich aus ihm herauszutreten. Der Konfrontation mit dem Menschen Martin Walser ist der Schriftsteller Walser ausgewichen. Nicht schonungslose Einsicht hat er gesucht, sondern Seelenfrieden. 

Nach dem vierstündigen Gespräch am 12. Dezember 1998, an dem Ignatz Bubis, Martin Walser, Frank Schirrmacher und ich teilgenommen haben, bestehen für mich keine Zweifel mehr daran. Das zwei Tage später in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckte Gespräch gibt in seiner Zusammenfassung nicht hinreichend deutlich wider, wie oft Bubis, Schirrmacher und ich den Versuch unternommen haben, Walser eine Brücke zu bauen, nämlich jene des möglichen Mißverständnisses: Es könnten doch Leser geben, die etwas aus der Walserschen „Sonntagsrede“ heraushören wollen, was doch vermutlich gar nicht drinsteht. Die Antwort Martin Walsers war unter Berufung auf eine Flut zustimmender Leserbriefe stets dieselbe: Es gebe keine Mißverständnisse. Dann allerdings muß man ihn und alle, die ihm zustimmend geschrieben haben, beim Wort nehmen, und genau das hatte Ignatz Bubis von Anbeginn - und lange Zeit als einziger - getan. 

Im Gespräch mit Walser war Bubis bei aller Deutlichkeit seiner Aussagen besonnen geblieben und hatte damit Walsers Legitimationsversuche und -wünsche bloßgelegt. Doch das tröstete ihn nicht. Der Beifall der Eliten für  Walsers „Sonntagsrede“ versetzte Bubis in tiefe Besorgnis. Er wußte es nur zu gut: schon einmal, nach 1933, gehörten die Eliten zu den ersten, die umgeschwenkt waren, und alle, die ihnen später folgten, konnten sich durch sie bestätigt und legitimiert fühlen. Déjà-vu-Erlebnis oder Retraumatisierung? 

Nach dem Gespräch und nach der Verabschiedung von Martin Walser und Frank Schirrmacher lud ich Ignatz Bubis ein, ihn in meinem Wagen nach Hause zu fahren. Er stieg ein und sein gepanzertes Auto mit den Leibwächtern folgte uns in kurzem Abstand. Wir redeten kaum. Als wir vor seinem Haus angekommen waren, blieb er noch eine Weile  sitzen. Wir wechselten einige Worte, dann öffnete er die Tür, und bevor er sich erhob, sagte ich spontan: „Ignatz, ich bin stolz auf Dich!“ Er zögerte, blickte mich kurz an, dann war er schon ausgestiegen. Während ich langsam nach Hause fuhr, stieg in mir Bewunderung für diesen Mann auf, und ich konnte sie zunehmend bis in den Hals hinein spüren. 

Als meine Frau mir zurief, Ida Bubis sei am Telefon, da wußte ich: Jetzt war der Tag da, den ich so lange gefürchtet und stets aus meinen Gedanken verbannt hatte: „Ignatz ist vor einer halben Stunde gestorben“, lautete die atemeinschnürende Nachricht. Und alles, was man dann in solchen Augenblicken sagt, ist falsch. Ida Bubis wollte, daß ihr Mann schon am übernächsten Tag, am Sonntag, den 15. August in Israel beerdigt werden sollte. Was wegen des dazwischen liegenden Sabbats in Israel und des Samstags in Deutschland zunächst aussichtslos schien, war schließlich doch noch zustande gekommen: ein Sonderflug am Sonntagmorgen von Frankfurt nach Tel-Aviv für Familienmitglieder, Freunde und Bekannte von Ignatz Bubis und die Einreisegenehmigung aus Israel für den Sarg mit dem Verstorbenen. Dieser war bereits am Freitagabend auf den jüdischen Friedhof in der Eckenheimer Landstraße gebracht und dort in einer Kühlzelle aufbewahrt worden. Den ganzen Samstag über und auch in der Nacht zum Sonntag hielten Freunde und Bekannte abwechselnd Totenwache. Während dieser Zeit wurde der Friedhof innen und außen von der Polizei streng bewacht. In der Synagoge hatte Rabbiner Klein die Anwesenden eingeladen, am nächsten Morgen, vor dem Abtransport des Sarges zum Flughafen, auf dem Friedhof Abschied von Ignatz Bubis zu nehmen. 

Sonntag, 15. August 1999: Als ich kurz vor 7.00 Uhr zum Friedhof komme, haben sich bereits über 100 Menschen versammelt. Es ist ein windiger, naßkalter Morgen. Im Innenhof steht der Leichenwagen mit offener Heckklappe. Der Sarg liegt auf der Wagenpritsche, davor brennen zwei Kerzen. Während die Anwesenden sich noch in einem Halbkreis hinter dem Leichenwagen aufstellen, vollzieht der Rabbiner eine kurze Zeremonie. Dann werden die Kerzen gelöscht, die Heckklappe geschlossen - der Leichenwagen setzt sich langsam in Bewegung. Die Anwesenden folgen ihm in einer länger werdenden Menschenschlange zum Friedhofstor hinaus. Als der Wagen die noch regennasse Straße erreicht, erhöht er seine Geschwindigkeit und fährt schnell davon. Jetzt hat Ignatz Bubis uns, seine Gemeinde, endgültig und für immer verlassen und nichts - nichts - kann diese bittere Gewißheit, diese sich über alles ausbreitende Schwärze aufhalten. Das ist der Augenblick, in dem eine innere Palisade unter dem Druck aufgestauter Gefühle bricht und den Tränen freien Lauf läßt …

 

Vortrag von Prof. Dr. Salomon Korn anlässlich der Veranstaltung “ 20. Todestag von Ignatz Bubis“ am 14. August 2019 in der Evangelischen Akademie Frankfurt.

Salomon Korn