Über den Sinn des Strafens
Eine ehemalige Bundesjustizministerin und ein Ex-Bundesrichter tauschen sich über Recht und Sicherheit in der demokratischen Gesellschaft aus
Schuld, Vergeltung, Fahrlässigkeit, schärfere Strafen, Entkriminalisierung – um diese juristischen, politischen und philosophischen Begrifflichkeiten kreiste das Frankfurter Rechtsgespräch auf dem Unicampus Westend. Weit mehr als 500 Besucher verfolgten die Ausführungen der früheren Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und des ehemaligen Bundesrichters Professor Thomas Fischer über den Sinn des Strafens.
„Wir haben uns heute alles andere als leichte Kost vorgenommen“, sagte Deutschlandfunk-Moderatorin Sandra Schulz zum Auftakt des Frankfurter Rechtsgesprächs auf dem Uni-Campus Westend. Doch ihre beiden Gesprächspartner verzichteten am Montagabend aufs Fachsimpeln, sondern veranschaulichten ihre Thesen an vielen Beispielen aus der Rechtspraxis. Ganz unschuldig daran war die gewiefte Journalistin nicht, erwähnte sie im selben Atemzug den vor einer Einstellung stehenden Strafprozess zur Love-Parade-Katastrophe. „Wird am Ende niemand bestraft? Kann das gerecht sein?“, fragte Schulz provokativ.
„Eine Einstellung des Strafverfahrens muss nicht unbedingt Unrecht sein“, antwortete Thomas Fischer, ehemaliger Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe. Bei dem Prozess in Duisburg stehe Fahrlässigkeit der persönlichen Betroffenheit entgegen. Natürlich könne man das Verlangen der Eltern nach Vergeltung nachvollziehen. Sie hätten ihre Teenager zum Konzert ziehen lassen und jetzt seien ihre Kinder tot. „Da ist ein Bedürfnis nach Rache legitim“, erklärte Fischer.
Auf der anderen Seite gebe es den Sachbearbeiter in Duisburg, der einen kleinen Fehler mit allerdings gravierenden Auswirkungen gemacht hätte. Heute wisse man, dass mit genügend Lautsprechern im Tunnel höchstwahrscheinlich Schlimmeres hätte verhindert werden können. Den Stadtbediensteten treffe bestimmt Schuld, doch ein 21-facher Mörder sei er sicher nicht. Genauso wenig wie der Autofahrer, der mit Tempo 60 an einer Schule vorbeirast und dabei ein Kind tödlich verletzt. Hierbei handele es sich um „Elemente des Zufalls in der Fahrlässigkeit“.
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Stellv. Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung lenkte die Aufmerksamkeit der Zuhörer auf die Erwartungen der Bevölkerung an die Politik nach spektakulären Rechtsverstößen wie in der Kölner Silvesternacht. Ganz schnell hieße es dann, der Staat greife nicht energisch genug durch. Schärfere Gesetze müssten her, damit würde es sicherer in Deutschland. Sie appellierte in diesem Zusammenhang an die Politik, genauer hinzuschauen, ob Delikte nach einer Gesetzesänderung zurückgingen, ob die Rückfallquote sinke. „Oftmals verlaufe die Entwicklung ganz anders, als wir Politiker uns das vorgestellt hatten“, sagte sie. Dann müssten Gesetze auf den Prüfstand, mit offenem Ergebnis, möglicherweise auch mit der Konsequenz einer Strafsenkung.
Es sei ein Irrtum, zu denken, je höher die Strafandrohung, desto geringer sei die Wahrscheinlichkeit, eine Straftat zu begehen, betonte Fischer. Ein Krimineller handele nicht nach dem Schema: Eine Haftstrafe von zehn Jahren nehme ich in Kauf, zwölf Jahre Knast dagegen schrecken mich ab. „Täter kalkulieren vielmehr die Wahrscheinlichkeit ihrer Ermittlung“.
Um nicht falsch verstanden zu werden, bejahte Fischer die Frage von Moderatorin Schulz, ob denn Strafe notwendig sei. Der Ex-Richter wies zugleich darauf hin, dass ein Freiheitsentzug den Verlust jeglicher Selbstbestimmung bedeute. Was so ein Wegsperren bedeute, könne man in etwa so sehen: „Sperren Sie sich einmal für ein Wochenende mit Verpflegung in Ihre Gästetoilette ein. Und dann stellen Sie sich am Ende vor, Sie müssten dort noch viele hundert Tage hocken, weil Sie eine Spielhalle überfallen haben.“
Zu Reformen im Strafvollzug merkte Leutheusser-Schnarrenberger kritisch an: „Mehr Polizisten zu fordern, kommt immer gut an“. Wenn Sie aber einmal öffentlich über neue Formen des Strafvollzugs nachdächten, falle schnell der Vorwurf des „Kuschelvollzugs“. Ein Gast aus dem Publikum dachte laut über alternative Strafen wie die Übernahme von sozialen Aufgaben nach. Ein Strafeinsatz im Altenheim sei vielleicht nicht unbedingt gut für die Bewohner, entgegnete Fischer.
Beide Juristen regten allerdings eine weitere Debatte über eine vernünftige Entkriminalisierung an. Und zwar in jenen Fällen, in denen der Strafrechtsbefehl nicht so richtig ankomme, bemerkte die frühere Justizministerin. Als Beispiel nannte sie die Kriminalität mit leichten Drogen. Hier sollten insbesondere Abhängigen besondere Angebote unterbreitet werden. Fischer sprach sich für eine Abschaffung des Paragraphen 265 a) aus, der das „Erschleichen von Leistungen“ wie Schwarzfahren unter Strafe stellt. Außerdem müsse man darüber nachdenken, ob beim Diebstahl die Freiheitsstrafe das richtige Mittel sei.
Nach der zweistündigen Veranstaltung, bei der die liberale Stiftung von der Liberalen Hochschulgruppe Frankfurt unterstützt wurde, ließen sich interessierte Gäste das neue Buch von Professor Fischer signieren, aus dem er zuvor einige Passagen vorgetragen hatte. Darin bezeichnet der Jurist das Strafrecht auch als einen Ort, an dem grundlegende Fragen des gesellschaftlichen Lebens, der Freiheitsspielräume und der Verantwortung verhandelt und besprochen werden.
Ludger Kersting